Gentrifizierung in der Medina von Marrakesch

Die beiden Mainzer Geographen Dr. Sandra Petermann und Prof. Anton Escher haben sich für einen wissenschaftlichen Artikel mit Gentrifizierungsprozessen in Marrakesch auseinandergesetzt und kommen in ihrer Publikation Gentrification in den Altstädten des Königreichs Marokko zu einem erstaunlichen Ergebnis.

Unter Gentrifizierung versteht man einen baulichen und sozioökonomischen Aufwertungsprozess einzelner Stadtviertel, der mit einer sukzessiven Verdrängung der alteingesessenen und zumeist statusniedrigeren Bewohner eines Quartiers zugunsten einer statushöheren Bevölkerungsschicht einhergeht. Dieser Prozess lässt sich weltweit in vielen Städten beobachten, unter anderem auch in Marrakesch, wo sich in den 1990iger Jahren ein tiefgreifender Erneuerungsprozess der altstädtischen Bausubstanz Bahn brach, der aber bereits ein halbes Jahrhundert zuvor seinen Anfang genommen hat.

Menara-Garten Marrakesch
Menara-Gärten in Marrakesch (Foto: Riad Marrakesch)

Nach der Unabhängigkeit vom französischen Protektorat wanderten weite Teile der Ober- und Mittelschicht in die von den früheren Kolonialherren zurückgelassenen Wohnungen der Neustädte ab und allmählich entwickelte sich die Medina zu einem Quartier mittlerer und unterer Einkommensschichten, die häufig vom Land zugezogen sind. Mangelnde ökonomische Ressourcen für notwendige Renovierungsarbeiten begünstigten den zunehmenden Verfall der Bausubstanz. In den 1990iger Jahren kam der internationale Jetset nach Marrakesch und der Immobilienmarkt begann zu boomen. Zählte man im Sommer 1999 noch etwa 150 ausländische Hausbesitzer in der Medina von Marrakesch, so wuchs diese Zahl bis Ende 2000 auf 500. Im März 2003 waren es schon über 900 und inzwischen gibt es einen heißen Immobilienmarkt, auf dem Stadthäuser und Riads in der Medina in allen gewünschten Renovierungszuständen angeboten werden.

Heute sind auf den gängigen Immobilienportalen im Internet keine Inserate mehr für Riads in der Medina zu finden, stattdessen werden Luxusobjekte am Stadtrand angeboten. Wer ein Stadthaus sucht, braucht zwei Dinge: sehr viel Geld und einen guten Makler, der Erfahrungen mit Immobiliengeschäften und Ausländern hat.

Ausländisches Kapital bewahrt kulturelles Erbe, schafft Arbeitsplätze und verdrängt Bewohner

Die Medina prosperiert und die Mieten steigen. Dabei zeigte sich bereits 2004, als der Artikel veröffentlicht wurde, dass sich die ausländischen Immobilien auf bestimmte Viertel der Medina konzentrieren. Zu Beginn des Booms bevorzugten viele Ausländer die Quartiere in der Nähe des zentralen Platzes Djemaa el Fna wie Mouassine oder Ksour und vermieden die Wohnviertel im Osten der Medina. Auch die Mellah, das frühere Judenviertel, wird stärker als zu Beginn nachgefragt. Als Grund dafür werden die steigenden Immobilienpreise und der bauliche Zustand der noch nicht renovierten Häusern in den angesagteren Vierteln angeführt — die Karawane zieht weiter.

Gentrifizierung in Marrakesch

Die Auswirkungen dieses Aufwertungsprozesses sind vielschichtig. Zunächst sorgt der Immobilienhandel für die Sanierung der Bausubstanz. In den Jahren 2002 und 2003 wurden die Straßen in der Medina fast flächendeckend gepflastert oder asphaltiert, zudem wurde die Kanalisation erneuert. Aufgrund der hohen Nachfrage nach althergebrachten Baumethoden wurden im Zuge der Renovierung  und Einrichtung der sanierten Häuser traditionelle Handwerkstechniken wiederentdeckt und bewahrt. Um die oftmals als Gästehäuser genutzten Riads herum entstanden häufig ökonomische Strukturen und neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich.

Diese Veränderungen wurden auch in der Sozialstruktur des Viertels ablesbar. So entwickelte sich Medina in den vergangenen zwanzig Jahren von einem Wohnviertel unterer Einkommensschichten zu einem heterogenen Quartier, in der zwar wohlhabende Marokkaner einen Zweitwohnsitz unterhalten,  in der die statushöheren Bevölkerungsgruppen jedoch meistens Ausländer sind. Aus baulicher und kulturhistorischer Sicht bedeutete der vor zwanzig Jahren einsetzende Immobilienboom vermutlich die Rettung für die Medina von Marrakesch. Aus sozialer Perspektive geht die Aufwertung eines Viertels fast immer mit der Verdrängung seiner Bewohner einher, auch wenn diese 2004 kaum spürbar war, weil der Umzug aus der Medina in eine Neustadtwohnung auch mit einem sozialen Aufstieg und dem dazugehörigen Prestige verbunden war.

Die beiden Autoren bezeichnen die Veränderungen in der Altstadt von Marrakesch zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als Gentrifizierung, betonen aber deren Unterschiede im Vergleich zu bislang beschriebenen Prozessen, da in Marrakesch vor allem Riads statt klassischer Wohnbauten renoviert werden und sich die Spekulationstätigkeiten in Grenzen halten. Zudem sei die absolute Zahl der den Aufwertungsprozess vorantreibenden Ausländer gegenüber der großen Anzahl der ursprünglichen Bevölkerung verhältnismäßig gering. Ähnliche Aufwertungsprozesse wie in Marrakesch sind auch in der Medina von Essaouira und weniger stark in den Altstädten von Asilah, Tanger, Fès und Chefchaouen zu beobachten.

Der komplette Artikel ist hier zu finden:

  • Anton Escher, Sandra Petermann: Gentrification in den Altstädten des Königreichs Marokko. In: Die Arabische Welt im Spiegel der Kulturgeographie, PDF-Dokument (3,5 MB)

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